Bernhard
Peter
Immer
schön kritisch bleiben!
Der Goldene Schnitt ist ein Mythos. Viele Autoren sind so begeistert vom Goldenen Schnitt, daß sie ihn überall sehen. In der Tat kann man den Goldenen Schnitt irgendwie in jedes Gebäude, jedes Gemälde etc. hineinmessen. Irgendeine Linie wird schon passen! Ich möchte ganz persönlich zu etwas Zurückhaltung raten. Wenn wir in einem Gemälde oder in einem Gebäude Verhältnisse finden, die uns gefallen - schön für uns. Wenn dies das Verhältnis des Goldenen Schnittes ist, dann haben wir einen mathematischen Grund gefunden, warum wir es schön finden. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, ob der Maler oder Erbauer das Verhältnis als solches erstens kannte oder zufällig traf und zweitens auch anwenden wollte oder einfach seinem Gefühl von Ästhetik folgte. Ber Betrachter sollte sich immer die vier folgenden Fragen stellen:
Ist
der Goldene Schnitt tatsächlich mit akzeptabler Toleranz
vorhanden?
Insbesondere muß man sich auch darüber Gedanken machen,
welche Toleranzen man zuläßt. Wieviel Prozent
Abweichung toleriert man unter den gegebenen Techniken,
um es noch als Goldenen Schnitt zu akzeptieren? Sind wir
großzügig und sagen wir 2%, das Zehnfache von dem, was
moderne Ingenieure an Abweichung tolerieren würden.
Vielfach findet man in der Literatur wilde Linien, die
einem Nachmessen nicht standhalten - bei aller
Begeisterung kann ich ein Verhältnis von 1.58 oder 1.66
nicht mehr als Goldenen Schnitt bezeichnen.
Eine der größten Fehlinterpretationen bezieht sich auf
die ägyptischen Pyramiden - weder stimmen die Zahlen
noch war der Goldene Schnitt damals den Erbauern bewußt.
Ein weiterer Mythos ist, daß das UN-Gebäude in New York
die Proportionen des Goldenen Schnittes besäße. Auch
wenn der Mythos hundertmal wiederholt wird, wird er nicht
wahrer. Die Kantenlängen des Hochhauses sind 505
(Eingangsbereich) bzw. 544 (Flußseite) x 287 x 72 Fuß
nach Auskunft der UN. Nichts davon ist der Goldene
Schnitt! Und um es noch komplexer zu machen, wurde das
Gebäude entgegen dem ursprünglichen Entwurf von
Harrison et al. nur 39 Stockwerke hoch gebaut statt 45
(Danke, Herr Morgenstern!), um Kosten zu sparen.
Auch bei Botticellis Venus, bei Michelangelos David etc:
Im Zweifelsfall nachmessen! Viele Spekulationen erweisen
sich als nicht zutreffend.
Ist
das Vorkommen des Goldenen Schnittes an dieser Stelle
für das Objekt signifikant?
Eine weitere wichtige Forderung sei, daß die ins
Verhältnis gesetzten Abschnitte markant und hinreichend
klar abgegrenzt sind. Das Knie einer Statue ist z. B. ein
ziemlich großer Bereich - irgendwie kriegt man das immer
passend! Und wenn's mit dem linken Fuß auf einem
Gemälde nicht geht, dann eben mit dem rechten....
Auch ist in vielen Beispielen aus der Architektur nicht
einzusehen, warum eine x-beliebige Nebenlinie eines
Gebäudes so wichtig sein sollte, wenn die Hauptgesimse
eben nicht das Verhältnis bilden.
Auch sollte insbesondere in der Architektur
berücksichtigt werden, daß die wenigsten Betrachter
einer Fassade diese aus unendlicher Entfernung ohne
Perspektive betrachten. Die Verzerrung durch den Blick in
die Höhe kann den Eindruck verändern, so kann die
tatsächliche Wirkung eines Gebäudes eine andere sein,
oder der Architekt berücksichtigt genau diesen Effekt
schon vorher.
In der Malerei finden sich ebenfalls wilde Spekulationen.
Insbesondere Leonardos Mona Lisa muß für den Goldenen
Schnitt herhalten. Dabei fällt auf, daß mit der
gleichen Berechtigung auch ganz andere Linien genommen
werden können. Wenn man die einzeichnet, sieht es
mindestens genau so überzeugend aus! Man sollte nur dann
in Gemälde Goldene Schnitte hineinlesen, wenn man
scharfe Linien hat, denen man folgen kann, idealerweise
bei einem Gemälde von Mondriaan oder in der Kunst von Jo
Niemeyer.
Auch in die
Kaljan-Moschee von Bukhara den Goldenen Schnitt in die
Außenkanten hineinzulesen, ist übertriebene
Begeisterung, denn erstens folgt die islamische
Architektur Zentralasiens nicht griechischen
Proportionen, zweitens entwickelt sich die Struktur eines
islamischen Bauwerks dieser Zeit von innen heraus und
drittens wäre dieses Proportionsverhältnis der Seiten
im Gassen-Gewirr einer orientalischen Altstadt von keinem
Punkt aus wahrnehmbar gewesen - also dreimal
insignifikant.
Kannte
der Schöpfer des Objektes den Goldenen Schnitt?
Die Ägyptischen Pyramiden sind bestimmt
nicht in Kenntnis des Goldenen Schnittes entstanden, denn
die Proportion wurde erst viel später von den Griechen
formuliert.
Wenn
ja, wollte er ihn mit Absicht benutzen?
In der Praxis der Architektur war es wichtig, die Maße
in Originalgröße zu übertragen. Das war viel leichter
mit Quadraturen und Triangulaturen zu erreichen als mit
einer irrationalen Zahl. Insofern dürfte im Bauhandwerk
aus rein praktischen Gründen der Goldene Schnitt nicht
das bedeutendste Prinzip gewesen sein.
Leonardo da Vinci hat ohne Zweifel den Goldenen Schnitt
gekannt und benutzt, immerhin hat er Luca Pacioli's Buch
illustriert. Das heißt aber noch lange nicht, daß er
ihn in all seinen Gemälden verwendet hat und nicht auch
andere geometrische Konzepte verfolgt hat.
Die hier gezeigten Beispiele mögen ebenfalls unter genau diesen Vorbehalten gesehen werden. Die Beispiele sollen uns verstehen helfen, warum wir heute etwas als schön und harmonisch empfinden, aber keine Aussage darüber treffen, ob der Schöpfer dieser Schönheit das in Kenntnis des Goldenen Schnittes und mit Absicht tat, sofern wir es nicht ausdrücklich wissen.
Deshalb:
Freude an der mathematischen
Spielerei: Ja!
Aber Betrachtung der Welt durch die Sectio-Aurea-Brille: Nein!
Einführung
Geometrische Konstruktionen (1) - Geometrische
Konstruktionen (2)
Geometrische Konstruktionen (3) - Geometrische
Konstruktionen (4)
Geometrische Konstruktionen (5) - Geometrische
Konstruktionen (6)
Geometrische Konstruktionen (7) - Geometrische
Konstruktionen (8)
Geometrische Konstruktionen (9) - Geometrische
Konstruktionen (10)
Fünfecke, Zehnecke, Ikosaeder und der
Goldene Schnitt
Mathematik des Goldenen Schnittes
Die Zahl des geometrischen Wachstums bzw.
der geometrischen Teilung
Immer schön kritisch bleiben!
Der Goldene Schnitt in der konkreten Kunst -
Beispiele von Jo Niemeyer
Land Art mit dem Goldenen Schnitt
Literatur, Links, Quellen
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Text und Graphik: Bernhard Peter 2004-2005
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