Bernhard Peter
Galerie: Photos schöner alter Wappen Nr. 1529
Marburg an der Lahn (Hessen)

Marburg, Marienkirche (Lutherische Pfarrkirche)

Die Lutherische Pfarrkirche oder auch Marienkirche oder Marienpfarrkirche steht auf einer hohen Terrasse zwischen Burg und Stadt und ist nach der Elisabethkirche die größte und bedeutendste Kirche Marburgs. Sie vereinigt in sich viele verschiedene Bauphasen und ersetzt einen romanischen Vorgängerbau, von dem nur noch ein mächtiger Taufstein stammt, man begann mit dem gotischen Chor, der 1297 geweiht wurde, dann folgte das Langhaus im nächsten Jahrhundert, begleitet von der aufwendigen Erweiterung des Baugrundes am Hang, eine dreischiffige Halle, zuletzt baute man 1447-1473 den mächtigen spätgotischen Westturm, dessen Turmspitze im Lauf der Jahre bemerkenswert schief und in sich verdreht wurde. 1527 wurde der evangelische Gottesdienst eingeführt, und die Marienkirche wurde die wichtigste evangelische Stadtkirche. Danach baute man wieder im Osten weiter, im Jahre 1604 wurde noch ein kleiner Bau mit Prunkportal und Treppenhaus im Osten an den dreiseitig geschlossenen Chor angesetzt, stilistisch späte Renaissance. Dieser barg nur einen Zugang zur landgräflichen Herrschaftsloge im Chor, damit der Landgraf beim Betreten der Kirche sich nicht durch die Menschen drängeln mußte, sondern bequem seinen Separatzugang nutzen konnte. Auftraggeber dieses letzten Bauabschnittes war Ludwig IV. Landgraf v. Hessen-Marburg (27.5.1537 - 9.10.1604). Er erkor diese Kirche zu seiner Hofkirche, und er machte sie auch zu seiner Grablege. Als seine Gemahlin Hedwig v. Württemberg starb, ließ er von Gerhard Wolff aus Mainz in den Jahren 1590-93 ein Epitaph an der Nordseite des Chores für sich und seine Gemahlin in dieser Kirche anfertigen; beide liegen in der Krypta darunter begraben. Direkt daneben befindet sich ein zweites, stilistisch und ikonographisch ganz ähnliches Epitaph, von Georg II. Landgraf v. Hessen-Darmstadt (17.3.1605 - 11.6.1661) für seine Eltern Ludwig V. Landgraf v. Hessen-Darmstadt (24.9.1577 - 1626) und Markgräfin Magdalena v. Brandenburg (7.1.1582 - 14.5.1616) im Jahre 1627 gestiftet. Genaugenommen ist es ein Kenotaph, denn diese beiden sind nicht hier beerdigt worden. Warum das? Hessen-Darmstadt war lutherisch, und man wollte hier bewußt an den großen Förderer der lutherischen Lehre in Marburg anknüpfen, und so sind die beiden ca. 4 Jahrzehnte auseinander liegenden Kunstwerke äußerst ähnlich. Beide glänzen mit reichem heraldischen Schmuck, und hinter den Schutzgittern erkennt man qualitativ hochwertig ausgeführte Ahnenproben, eine Augenweide aus kunstgeschichtlicher und heraldischer Sicht. Dieser Kenotaph zeugt auch von den politischen Entwicklungen, denn die Aufstellung hatte zur Voraussetzung, daß Moritz Landgraf v. Hessen-Kassel (25.5.1572 - 15.3.1632), Erbe des nördlichen Teiles, gegen die Bestimmungen des Testamentes von Ludwig IV. verstieß und die calvinistische Lehre mit Gewalt einführte, wogegen sich der andere Erbe auflehnte und während des 30jährigen Krieges 1625 Marburg eroberte und bis 1648 behauptete. Da Ludwig V. Landgraf v. Hessen-Darmstadt (24.9.1577 - 1626) der Erbe des südlichen Teiles war und von dieser Linie nun als Alleinberechtigter angesehen wurde, ist die stilistische Nähe der Epitaphien auch ein politisches Manifest.

Zurück zum Anbau an der Ostseite: Hier sind wir noch vor der Besetzung Marburgs durch Darmstädter Truppen. In seinem letzten Lebensjahr gab Ludwig IV. den Auftrag zum Bau dieses Treppenhauses, doch zu Lebzeiten ist er wohl nicht mehr fertiggestellt worden, denn über dem Architrav finden wir nicht die Kombination Hessen und Württemberg, sondern Hessen und Nassau. Hier wurde also schon die Heraldik auf den Erben Marburgs und der nördlichen Hälfte, auf Moritz Landgraf v. Hessen-Kassel (25.5.1572 - 15.3.1632) und seine Frau umgestellt, der frischgebackener Erbe und Herrscher in Marburg war und gerade ein Jahr zuvor zum zweiten Mal geheiratet hatte. Er ging als "der zweite Reformator Hessens" in die Geschichte ein. Eigentlich war der hochgebildete und vielseitig wissenschaftlich interessierte Landgraf, ein in vielen Dingen typischer Renaissancefürst, von Haus aus lutherisch, wurde aber unter dem Einfluß seiner beiden Ehefrauen reformiert und tendierte nun statt zu Philipp Melanchthon und Martin Butzer eher zu Calvin und Zwingli. 1605 setzte er seine "Verbesserungspunkte" in die Tat um. Alle mittelalterlichen Bildwerke außen an der Kirche und im Inneren wurden in einem Bildersturm auf Anordnung des Landgrafen zerstört. Ungeachtet der testamentarischen Bestimmungen seines Onkels nahm er sein Recht nach dem Augsburger Religionsfrieden wahr, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen (cuius regio, eius religio), rechtlich doppelt fragwürdig, zum einen, weil die Vereinbarung zwischen Katholiken und Protestanten geschlossen war und die Anwendung auf Reformierte nur ein Analogieschluß war, zum andern, und dies unzweifelhaft gegen geltendes Recht, weil der Konfessionswechsel für Marburg testamentarisch ausgeschlossen war, desgleichen war der erzwungene Konfessionswechsel der gesamthessischen Universität Marburg ein Rechtsbruch, was zum Marburger Erbschaftsstreit zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt führte, der in das weitaus größere Szenario des 30jährigen Krieges je nach Interessen der Mächte "eingebaut" wurde. Diese erzwungene Calvinisierung von Stadt und Universität Marburg war sein größter politischer Fehler, nicht nur zog er damit sein Land so sehr in den 30jährigen Krieg hinein, daß Hessen zu den am stärksten verwüsteten Landstrichen Deutschlands gehörte, sondern er gab auch seinem Cousin einen Vorwand, Marburg zu besetzen, ferner ruinierte der Krieg das Land finanziell, so daß Moritz 1627 zur Abdankung gezwungen wurde. Er zog sich nach Eschwege zurück und verbrachte dort seinen Lebensabend mit seinen Studien. Für die Misere im Land büßte unter dem Nachfolger aber sein ehemaliger Kanzleidirektor Dr. Günther mit seinem Leben auf dem Schafott.

Heraldisch rechts: Wappen für Moritz Landgraf v. Hessen-Kassel (25.5.1572 - 15.3.1632): Der Schild ist geviert mit Herzschild:

Dazu werden folgende 3 Helme geführt:

Genealogie zum Wappen:

Heraldisch links: Wappen für Juliana Gräfin v. Nassau-Siegen (3.9.1587 - 15.2.1643). Der Schild ist geviert:

Dazu drei Helme:

Genealogie zum Wappen:

Diese Frau war die Quelle einer weiteren Aufsplitterung der hessischen Linien, denn auf sie geht die sog. Rotenburger Quart zurück. Sie war zwar die zweite Ehefrau, somit waren ihre Kinder gegenüber den Söhnen aus erster Ehe in der Erbfolge zurückgesetzt. Gräfin Juliana verlangte, daß ihre Kinder immerhin ein Viertel von Hessen-Kassel als Erbe zugestanden wurde (daher "Quart"). Diese Landgrafen waren nur zum Teil souverän, denn offiziell unterstanden sie Hessen-Kassel als Landesherren in reichsrechtlichem Sinne. Drei ihrer Söhne erreichten das Erwachsenenalter und konnten diese Vereinbarung zur Gründung von Nebenlinien nutzen, als sich ihr Vater Moritz 1627 aus der Regierung zurückzog. So entstanden die kurzlebigen Linien Hessen-Rotenburg, Hessen-Eschwege-Wanfried und die überlebende Linie Hessen-Rheinfels-Rotenburg, die sich wiederum in die Linien Hessen-Rheinfels-Rotenburg, Hessen-Rheinfels-Wanfried und Hessen-Rheinfels-Eschwege aufteilte. 1629 zog die Mutter Juliana zu ihren Kindern nach Rotenburg, getrennt von ihrem Mann in Eschwege, denn so hatten beide eher ihren Frieden.

Eine Kuriosität: Beide Ehepartner dieser Wappenkombination haben Katzenelnbogen im Wappen, beide haben Diez! So treffen sich die Ansprüche der Vorväter auf die gleichen Grafschaften, um die sich der sog. Katzenelnbogener Erbfolgestreit entwickelte, hier vereint wieder.

Literatur, Links und Quellen:
Siebmachers Wappenbücher
Genealogien und Lebensläufe: Prof. Herbert Stoyan, Adel-digital, WW-Person auf CD, 10. Auflage 2007, Degener Verlag ISBN 978-3-7686-2515-9
Gerhard Köbler: Historisches Lexikon der deutschen Länder - die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C. H. Beck Verlag München 7. Auflage 2007, ISBN 978-3-406-54986-1
Landgraf Ludwig IV.:
http://www.uni-marburg.de/aktuelles/unijournal/april2005/juengling von Dr. Margret Lemberg
Artikel „Moritz der Gelehrte, Landgraf von Hessen“ von Max Lenz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 268–283
Landgraf Moritz:
http://www.bbkl.de/m/moritz_d_g.shtml
Gerhard Menk (Hrsg.), Landgraf Moritz der Gelehrte - ein Kalvinist zwischen Wissenschaft und Politik, Trautvetter & Fischer, Marburg 2000, ISBN 3-87822-112-6.
Faltblatt "Die Pfarrkirche (Marienkirche) in Marburg an der Lahn, erhältlich in der Kirche
Sonderheft der Zeitschrift "Hessische Heimat", 19. Jahrgang, 1969, Heft 4
http://www.marburg-net.de/ansichten/kirchen/lutherkirche/index.html

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