Bernhard Peter
HIV und AIDS: Ansätze für eine medikamentöse Therapie

Medikamentöse Optionen:
Es gibt derzeit insgesamt 4 Wirkstoffklassen in der Therapie, die an drei unterschiedlichen Stellen der Virusvermehrung eingreifen und jeweils einen entscheidenden Schritt im Vermehrungszyklus hemmen. Weitere Optionen sind in der Entwicklung. Für alle Medikamente gilt gleichermaßen:

1a) NRTI = Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer
Das sind falsche Bausteine (Nukleosid-Analoga sind ohne Phosphatrest), die vom Enzym Reverse Transkriptase nicht als solche erkannt und mit den natürlichen Nukleosiden verwechselt werden und in die DNA-Kopie eingebaut werden. Dann rächt sich aber, daß es der falsche Baustein war – die weitere Synthese hakt, es können keine weiteren Nukleotide angehängt werden, es gibt Strangbrüche, das Ergebnis ist Müll sowie eine Reverse Transkriptase, die nicht mehr funktioniert. Weil die Reverse Transkriptase aber das entscheidende Schlüsselenzym ist, welches virale RNA in DNA umschreibt, kommt es zum Vermehrungsstop.

Beispiele: Zidovudin (März 1987), Lamivudin, Abacavir, Stavudin, Zalcitabin, Didanosin, Emtricitabin

Neuheiten in der Entwicklung: Elvucitabin (ACH-126,443), Reverset (DPC817), SPD754, Phoshazid (Prodrug von AZT), Racivir, Alovudin (MIV-310), Stampidin, Amdoxovir (DAPD)

1b) NtRTI = Nukleotidische Reverse-Transkriptase-Hemmer
Das sind ebenfalls falsche Bausteine (Nukleotid-Analoga besitzen einen Phosphatrest), die vom Enzym Reverse Transkriptase nicht als solche erkannt werden und in die DNA-Kopie eingebaut werden. Ansonsten wie oben.

Beispiele: Tenofovir (Februar 2002), Tenofovirdisoproxil

2) NNRTI = Nicht-Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer
Diese Stoffe binden an das aktive Zentrum des Enzyms Reverse Transkriptase und hemmen es so. Es handelt sich aber nicht um falsche Bausteine, sondern sie verhindern die Bindung des Substrates. Eine Umschreibung in DNA kann nicht erfolgen, die Virusvermehrung ist blockiert.

Beispiele: Delavirdin, Efavirenz, Nevirapin (Juni 1996)

Neuheiten in der Entwicklung: Etravirin (TMC125), Capravirin (AG1549, S-1153), Calanolide A, GW5634

3) PI = Protease-Hemmer
Diese Stoffe hemmen die Protease, das ist das Enzym, welches für den Schnitt der hergestellten Vorläufer-Proteine und für den Zusammenbau der Viren aus den synthetisierten neuen Bausteinen verantwortlich ist. Die HIV-Protease ist ein vom Virus codiertes Enzym, das langkettige, viral gebildete Polypeptide in kleinere Proteineinheiten spaltet, die dann zu infektiösen Virionen zusammengebaut werden. Die Blockierung des Enzyms führt zu unreifen, nicht-infektiösen Viren. Protease-Inhibitoren verhindern deshalb neue Infektionszyklen. Dabei gibt es zwei Sorten Wirkstoffe, die eine Sorte sind selber Peptide, die andere nicht (Nicht-peptidische Protease-Hemmer).

Im Detail ist das noch ein wenig differenzierter: Die HIV-Protease ist eine Aspartylprotease, wie auch z. B. das Pepsin oder das Renin. Das bedeutet, daß sich im aktiven Zentrum zwei Asparaginsäuren befinden. Die HIV-Protease ist ein Homo-Dimer und besteht aus zwei identischen Untereinheiten mit einem gemeinsamen aktiven Zentrum. Das aktive Zentrum befindet sich in einem zentralen Hohlraum, in die sich die zu spaltenden Polyeptidstränge hineinlegen, um dort Hydrolyse zu erfahren und dadurch gespalten zu werden. Die kompetitiven PI tun so, als ob sie die bevorzugte Schnittstelle wären und täuschen die Protease, die ihre Funktion dann nicht mehr ausführen kann.

Beispiele: Indinavir, Nelfinavir, Saquinavir (Dezember 1995), Lopinavir, Amprenavir (Prodrug: Fosamprenavir), Ritonavir, Atazanavir, Tipranavir (PNU-140690)

Neuheiten in der Entwicklung: TMC114 (nicht-peptidischer PI), GW640385X (VX-385), AG-001859, SM-309515

Geboosterte Protease-Inhibitoren:
Die oben genannten Protease-Hemmer werden immer zusammen mit niedrig dosiertem Ritonavir kombiniert, um die Plasmaspiegel zu erhöhen (Pharmako-Enhancer). Das funktioniert, weil Ritonavir die abbauenden Enzyme (Cytochrom P450) in der Leber hemmt. Denn normalerweise ist durch die häufige Tabletteneinnahme die Compliance schlecht. Durch den Booster-Effekt kann die Anzahl der Tabletten und die Häufigkeit der Einnahme reduziert werden. Im Handel sind Fix-Kombinationen.

Doppelt geboosterte Protease-Inhibitoren:
Niedrig dosiertes Ritonavir kann auch die Blutspiegel von zwei PI gleichzeitig erhöhen. Diese Strategie wird aber erst bei Patienten mit Resistenzen oder bei Unverträglichkeiten gegenüber RTase-Hemmern angewandt. Ein idealer Partner für die doppelt geboosterte Therapie ist Atazanavir zu Lopinavir/Ritonavir, weil es zu einem positiven synergistischen Effekt kommt.

4) Neu: FI = Fusionshemmer, Entry-Inhibitor
Diese Substanzen greifen extrazellulär an und verhindern das Andocken der Viren und damit auch die Verschmelzung der Virionen mit der Wirtszelle. Wenn das virale Glycoprotein gp120 an die zelleigenen Transmembranproteine CD4 und CCR5 gebunden hat, dann sorgt das dadurch freigelegte virale Glycoprotein gp41 dafür, daß sich Virus und Zelle so nahe kommen, daß die Fusion stattfindet, indem zwei Abschnitte von gp41 offengelegt werden, die sich miteinander verbinden. Erst infolge dieser Konformationsänderung und Verkürzung des Abstandes kann die virale Membran mit der der Zielzelle fusionieren. Genau hier greifen Fusionshemmer an: Sie blockieren die Regionen des gp41-Proteins, so daß es sich nicht verkürzen kann. Vorteil: Dieses Konzept greift bereits vor dem Eindringen des Virus in die Zelle und ist damit auch erfolgreich gegen Virus-Stämme, die Resistenzen gegen intrazellulär angreifende Substanzen haben.

Beispiele: Enfuvirtid – ein Prototyp einer neuen Wirkstoffklasse (März 2003, „T20“, Peptid, 36 Aminosäuren, 106 Produktionsschritte, enorme Kosten, subcutane Injektion (lokale UAW), schlechte Compliance (Spitzen), nur bei ansonsten austherapierten Patienten, rasche Resistenzbildung).

Neuheiten in der Entwicklung:T-649, FP-21399

5) Ganz neu: CCR5-Antagonisten, Korezeptor-Antagonisten
Zum Eindringen in die Zelle muß das virale Glycoprotein an zwei Strukturen der Zelle andocken, zum einen an den CD4-Rezeptor, zum anderen an den Korezeptor CCR5, auch Chemokin-Rezeptor genannt. Ohne die Erfüllung beider Bedingungen kann der Virus nicht mit der Zelle fusionieren. Eine Blockade des Chemokin-Rezeptors verhindert die Infektion der Zelle. Neu an diesem Therapieansatz ist, daß zum ersten Mal nicht der Virus, sondern die menschliche Zelle Ziel des Arzneistoffs ist.

Im Detail ist das noch ein bißchen komplizierter, denn es gibt noch einen zweiten möglichen Korezeptor, nämlich CXCR4. Viren mit einer CCR5-Präferenz werden R5-Viren genannt, solche mit einer CXCR4-Präferenz dagegen X4-Viren. 80% aller Viren sind R5-Viren. Je höher die CD4-Zell-Zahl und je niedriger die Viruslast ist, desto höher ist der Anteil der R5-Viren. X4-Viren werden wichtig in späteren Stadien des Infektionsverlaufes.

Beispiele für CCR5-Antagonisten: Prototyp ist die Substanz GW873140, derzeit in Phase II- und Phase III-Studien

Neuheiten in der Entwicklung: SCH-D (SCH-417690) Maraviroc (UK 427,857), „873,140“, TAK-220, Pro-140; AMD070 als CXCR4-Antagonist.

6) Ganz neu: Integrase-Hemmer
Die Substanzen verhindern den Einbau des DNA-Provirus in die Wirts-DNA. Damit kann sich der Virus auch nicht mehr vermehren. Die menschliche Zelle besitzt keine Integrase, insofern könnten die Hemmstoffe sehr selektiv sein. Derzeit verläuft die Entwicklung jedoch eher schleppend. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Bereich entwickeln wird.

Beispiel: Prototyp ist die Substanz MK-0518 (Merck Sharp & Dohme), derzeit in Phase II-Studie. In einem Test verringerte die Substanz die Anzahl der RNA-Kopien im Blut um 98 %.

Neuheiten in der Entwicklung: S-1368, L-870812, L-870810, V-165

Literatur:
Deutsche Apotheker-Zeitung, 17 (2004) S. 43-44
DAZ-Beilage Neue Arzneimittel 6 (1998) S. 44-47
Pharmazeutische Zeitung 27 (1997) 31-38
www.hiv.net 2005

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