Bernhard
Peter
Tödliche
Samen (1): Rizinus
Woher
kommt Ricin?
Ricin ist das Gift
des Rizinus (Ricinus communis) aus der Familie der
Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae). Die Samen enthalten ca. 120
mg/100g Ricin. In Mitteleuropa wird Rizinus wegen seiner großen
grünen, roten oder blaugrauen handförmig geteilten Blätter oft
als Zierpflanze in Gärten und Parks angepflanzt. Die dreisamigen
roten und sehr dekorativen Früchte sind weich bestachelt. Die
Samen sind 1-2 cm lang und haben eine rotbaun-weißgelb
marmorierte Schale sowie einen kleinen weißen, warzigen Anhang.
Eine besondere Gefahr stellt die Verwendung dieser Samen in
Schmuckketten aus Afrika z B. dar.
Wie giftig
ist Ricin?
Ricin gehört zu den
stärksten biogenen Giften und zu den toxischsten Eiweißkörpern
überhaupt. Es wird nicht durch Verdauungsenzyme zerstört und es
ist auch für ein Eiweiß ziemlich hitzestabil. Trotz seiner
Molekülgröße wird es rasch im Darm aufgenommen. Für den
Menschen ist die tödliche Dosis ca. 1 mg/kg Körpergewicht (die LD50-Werte liegen bei 2 µg/kg Körpergewicht; die LD50-Werte für Mäuse liegen noch viel
niedriger). Der Verzehr von 7-8 Ricinus-Samen kann also für
einen Erwachsenen tödlich sein, bei Kindern genügt oft schon
ein einziger Same. Die Giftigkeit hängt stark vom Zerkauungsgrad
der Samen ab. In den Samenschalen ist so gut wie kein Gift. Ricin
hat sogar den Status eines biologischen Kampfstoffes. Es kann
oral aufgenommen werden, aber auch inhalativ, was sogar als noch
wirksamer beschrieben wird.
Ricin -
ein Lektin
Es handelt sich um
ein Lektin. Ein Lektin ist ein Glykoprotein, ein Eiweißkörper,
der mit Zuckerresten versehen ist. Grundgerüst ist ein Protein,
das aus zwei separaten Aminosäureketten besteht. Zur
Lektin-Eigenschaft gehört noch dazu, daß das Gift eine
spezifische Affinität zu bestimmten Monosaccharid-,
Aminozucker-, Uronsäure- oder Oligosaccharidresten hat und
nebenvalente Wechselwirkungen zu Oberflächen wie Zellmembranen
eingehen kann, die genau diese Reste tragen. Genau das sorgt
dafür, daß das Gift nur an bestimmten Zieloberflächen bindet.
Wie manche bakterielle Protein-Gifte wählt sich auch das Ricin
sein Ziel selbst aus. Im Sinne der Pflanze, die sich vor
Fraßfeinden schützen will, ist es natürlich, wenn das Gift
bevorzugt dahin kommt, wo es den meisten Schaden anrichtet!
Abb.: 3D-Raumstruktur von Ricin, PDB-ID 2AAI, visualisiert mit Chimera. Seitenansicht, unten die erste Untereinheit, oben die zweite Untereinheit, rote Bereiche sind die Zuckerketten.
Wie manche bakterielle Toxine (Cholera, Enterotoxin von E. coli, Pertussis) besteht das Rizinustoxin aus zwei Untereinheiten, die hier über eine Disulfidbrücke und hydrophobe Wechselwirkungen miteinander verbunden sind. Ein Teil, die B-Kette, ist das Transport- und Zielerkennungs-Vehikel mit 260 Aminosäuren, der andere Teil, die A-Kette, ist der Schadensbringer mit 265 Aminosäuren. Die B-Kette hat eine Bindungsspezifität für 2-Beta-D-Galactopyranosylreste auf Membranen und sorgt dafür, daß nach dem Herstellen des Kontaktes zur Membran der Zielzelle die A-Kette durch Endocytose in die Zelle eindringen kann. Dann werden A- und B-Kette durch reduktive Spaltung der die beiden verbindenden Disulfidbrücke getrennt. Auch dies geschieht genauso bei vielen Bakterien-Toxinen.
Abb.: 3D-Raumstruktur von Ricin, PDB-ID 2AAI, visualisiert mit Chimera. Andere Seitenansicht, unten Erkennungsregion, oben eigentliches Gift, rote Bereiche sind die Zuckerketten.
Der untere Teil, bestehend aus der ersten Aminosäuresequenz, hier in hellblau eingefärbt, ist die Region, mit der das Gift an der Zielzelle andockt. Hier ist die Erkennungsregion. Die A-Kette ist der Schadensbringer selbst, der hier im Huckepack auf der B-Kette sitzt. Er ist der eigentliche Bösewicht, der aber nur dann in Aktion tritt, wenn die Erkennungsregion ihr Ziel erkennt, an der Zelle andockt und die Einschleusung veranlaßt. Das erklärt, warum eine so winzige Menge Gift so effektiv ist.
Abb.: 3D-Raumstruktur von Ricin, PDB-ID 2AAI, visualisiert mit Chimera. Seitenansicht auf beide Ketten. Die zwei einzelnen Aminosäureketten sind farblich unterschieden (hellblau ist die B-Kette und dunkelblau die A-Kette), die vier bunten kurzen Teile sind die Zucker.
Abb.: 3D-Raumstruktur von Ricin, PDB-ID 2AAI, visualisiert mit Chimera. Blick von unten auf die Erkennungsregion. Die zwei einzelnen Aminosäureketten sind farblich unterschieden (hellblau ist die B-Kette und dunkelblau die A-Kette), die vier bunten kurzen Teile sind die Zucker.
Wie
wirkt Ricin?
Einmal in die Zelle
eingeschleust, kann es losgehen: Ein einziges Molekül Gift
reicht aus, um die ganze Zelle lahmzulegen. Die A-Kette ist der
eigentliche Schadensverursacher, eine N-Glykosidase, die einen
Adenin-Rest der Ribonukleinsäure der Ribosomen abspaltet.
Ribosomen sind die Zellorganellen, an denen die Zelle durch
Aneinanderhängen von Aminosäuren Proteine zusammenstellt. Durch
das Abspalten eines wesentlichen Bestandteiles kann das Ribosom
nicht mehr mit GTP oder GDP wechselwirken, die Aminoacetyl-t-RNS
kann nicht mehr an das Ribosom andocken, die Verlängerung der
entstehenden Aminosäureketten wird verunmöglicht. Kurz und
bündig: Die zelleigene Protein-Synthese wird gestoppt.
Das eigentliche Gift ist also ein Enzym. Und genau das bewirkt, daß eine so geringe Menge Gift so gefährlich ist. Denn Enzyme wirken katalytisch, können ihre schädliche Aktion immer wieder und wieder ausführen. Ein einziges Molekül kann also die Eiweiß-Synthese an allen Ribosomen einer Zelle lahmlegen. Das Rizinustoxin, einmal in eine Zelle geschleust, ruht nicht eher, als bis die ganze Zellchemie verändert ist und die Zelle zusammenbricht.
Wie
verläuft eine Ricin-Vergiftung?
Die Symptome treten mit
Verzögerung auf. Nach einer
Latenzzeit von Stunden bis mehreren Tagen kommt es zu Übelkeit,
Erbrechen, reiswasserartigen Durchfällen, Schwäche und
Abgeschlagenheit, Tachykardie, Unterleibsschmerzen. Das alles ist
zunächst sehr unspezifisch. Der andauernde Flüssigkeitsverlust
schwächt den Körper, läßt ihn austrocknen und birgt die
Gefahr des Kreislaufversagens. In schweren Vergiftungsfällen
kommen hinzu: Krämpfe an Händen und Beinen, blutige Koliken,
Fieber sowie die Symptome einer Lebernekrose bzw. eines akuten
Nierenversagens. Tremor und tonisch-klonische Krämpfe treten
gegen Ende vor dem Tod auf. Die Vergiftung führt zum Tod durch
Atemlähmung und / oder Herzversagen. Auch andere medulläre
Zentren sind betroffen. Das Problem bei dieser Vergiftung ist,
daß das Gift selbst im Körper nicht nachweisbar ist, und ohne
Hinweise auf Ricin-Verzehr tappt man bei der Diagnose wegen des
unspezifischen Charakters der Beschwerden im Dunkeln.
Solche Vergiftungen sind in der Praxis sehr selten. Die versehentliche orale Aufnahme verläuft meist glimpflich, weil zu wenig Gift freigesetzt wird. Verzehr intakter Bohnen ist meistens weniger schlimm, als wenn die Bohnen zerkaut werden oder wenn die Bohnen angebohrt sind, wie das beim Auffädeln als Schmuckperlen gemacht wird: Dann wird natürlich mehr Gift freigesetzt. Auch bei langer Verweildauer im Magen kann bei intakten Bohnen mehr Gift freigesetzt werden.
Wird nur eine geringe Menge Gift aufgenommen, beschränken sich die Vergiftungserscheinungen auf gastrointestinale Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Koliken, Durchfall, abdominale Schmerzen. Der Flüssigkeits- und Elektrolytverlust (Hypovolämie) ist die größte Komplikation und führt schnell zur Schwächung der Patienten.
Wird eine größere Menge Gift aufgenommen, kommt es zu allgemeinen Muskelschmerzen bis hin zu einer Rhabdomyolyse, zerebralen Krampfanfällen, außerdem werden Nieren und Leber schwer geschädigt, und der Tod tritt durch Multiorganversagen ein. Die Laborparameter verändern sich und weisen auf Leukozytose und hämolytische Anämie hin. Lactatazidose und Urämie sind die Folge von Rhabdomyolyse. Leberspezifische Transaminasen sind erhöht, desgleichen Retentionsparameter. Auch die Elektrolytstörungen werden in den Laborparametern abgebildet. Bei parenteraler Vergiftung ist der foudrouyante klinische Verlauf mit Blutdruckabfall, Tachykardie, Muskelkrämpfen etc. typisch.
Solche Fälle sind bei oraler Aufnahme zum Glück selten. Bei peroraler Aufnahme (Injektion z. B.) würde eine Intaxikation regelmäßig einen raschen klinischen Verlauf hervorrufen und nach 36-48 Stunden mit dem Tod enden. Eigentlich wäre Ricin aufgrund der leichten Verfügbarkeit, der hohen Letalität und der geringen Nachweisbarkeit im kriminellen Milieu sogar ein perfektes Gift, es müßte aber parenteral appliziert werden, und das kriminelle Milieu hat selten die Ausrüstung zur Herstellung ohne Eigengefährdung.
Gibt es
ähnliche Gifte?
Ein ganz ähnlich
gebautes Gift hat die Paternostererbse (Abrus precatorius) mit
dem Abrin.
Ähnlich gebaut sind weiterhin das Modeccin aus Adenia digitata
sowie das Volkensin aus Adenia volkensii und das Dodecandrin aus
Phytolacca dodecandra. Alle wirken auf die hier beschriebene
Weise.
Spektakuläre
Fälle
Ricin wird mit dem
"Regenschirmmord" am 7. September 1978 auf den
Exil-Bulgaren Georgi Markov in London in Verbindung gebracht. Er
war ein bekannter Schriftsteller und Dissident, ein Dramatiker und Drehbuchautor. Als er zu einem Italienbesuch ausreisen durfte,
nutzte er die Gelegenheit zur Flucht. Auf BBC, Deutscher Welle und Radio Free Europe machte
der Regimegegner regelmäßig Stimmung gegen das kommunistische
Regime, was letzteres gewaltig ärgerte. Als Datum des Attentats wurde der Geburtstag des
bulgarischen kommunistischen Staatschefs Todor Schiwkow gewählt,
der von Markov regelmäßig öffentlich kritisiert wurde. Beim
Warten an der Bushaltestelle an der Südseite der Waterloo Bridge wurde
Markov von hinten mit einem als Injektionsgerät präparierten
Regenschirm in die Wade gestochen. Um den Stab des Schirms war
ein Zylinder mit komprimierter Luft glegt worden, und der Knopf,
mit dem man normalerweise einen Automatikschirm öffnet, war zum
Auslöser umgebaut worden. Die Druckluft schoß die kleine
Hohlkugel mit dem Gift durch den "Lauf" des
Regenschirms.Was zunächst trotz des plötzlichen stechenden
Schmerzes in der Wade wie ein harmloser Zwischenfall bei einer
Rempelei aussah, entpuppte sich als tödliches Attentat: Am
gleichen Abend bekam Markov Fieber, der Blutdruck fiel ab. Das
Opfer fiel schnell ins Koma. Vier Tage später verstarb er an
einem Herzstillstand. Er wurde nur 49 Jahre alt. Bei der Autopsie
wurde im Unterschenlkel des Opfers eine 1,52 mm im Durchmesser
große Hohlkugel aus Platin und Iridium mit zwei Löchern
gefunden. Das Volumen der Hohlkugel bot ca. 200 µg des Giftes
Platz, völlig ausreichend. Möglicherweise waren die beiden
Löcher verschlossen mit einem Material wie Zuckerguß, der sich
im Körper rasch auflöst. Die Wissenschaftler
des britischen ABC-Labors Porton Down fanden Spuren von Rizin in
den Hohlräumen. Im Körper
Markovs selbst konnte keines mehr nachgewiesen werden. Viel
später wurden erneut Ermittlungen deswegen aufgenommen. 2008 ff.
recherchierten Beamte von Scotland Yard nach dem Zerfall des Sowjetimperiums mehrfach in Bulgarien, und dabei kam zu Tage, daß
der Befehl zu diesem Attentat tatsächlich auf Befehl des bulgarischen Partei- und Staatschefs
Todor Schiwkow ausgeführt wurde und daß der KGB, den der
Staatschef um Hilfe gebeten hatte, die Kapsel und das Gift
geliefert hatte. In einem Keller des bulgarischen Innenministerium wurden
sogar mehrere ganz analog präparierte Regenschirme gefunden, so
daß wir von einm allgemeinen Muster ausgehen können. Diee Akten zu Markov wurden leider
vernichtet, weswegen General Wladimir
Todorow 1992 eine kurze Freiheitsstrafe bekam. Ein weiterer Beteiligter beging Suizid, so
daß auch er nicht mehr zur Aufklärung beitragen kann. Ein ganz
ähnliches Attentat wurde auf Vladimir Kostov in Paris verübt,
welches er aber überlebte.
Ricin, das auch über die Haut oder inhalativ als Aerosol aufgenommen werden kann, gehört übrigens zu den potenziellen biologischen Kampfstoffen und steht auf dem Index der UN-Chemiewaffenkonvention.
Literatur:
Eberhard Teuscher:
Biogene Arzneimittel, WVG-Verlag, 5. Auflage, 1997
Eberhard Teuscher, Ulrike Lindequist: Biogene Gifte, 2. Auflage,
Gustav Fischer Verlag 1994
Roth, Daunderer, Kormann: Giftpflanzen, Pflanzengifte,
Nikol-Verlag 1994
Rutenber, E., Katzin, B. J., Ernst, S.,
Collins, E. J., Mlsna, D., Ready, M. P., Robertus, J. D.:
Crystallographic refinement of ricin to 2.5 A. Proteins 10 pp.
240 (1991)
PDB-ID 2AAI, http://www.rcsb.org/pdb/
http://www.gifte.de/Giftpflanzen/ricinus_communis.htm
Regenschirmmord: https://de.wikipedia.org/wiki/Regenschirmattentat
Regenschirmmord: https://www.welt.de/politik/article2402104/Wie-Moskau-mit-vergiftetem-Regenschirm-mordete.html
Rizin, Artikel im Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/77582/Wie-eine-Rizin-Vergiftung-rechtzeitig-erkannt-werden-kann
RKI-Ratgeber: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Rizin.html
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